In einem gemeinsamen Schreiben an die Deutsche Bahn AG fordern die Jüdische Gemeinde von Thessaloniki und der „Zug der Erinnerung“ die Rückzahlung der in Griechenland erpressten Einnahmen aus den antisemitischen „Reichsbahn“-Deportationen
THESSALONIKI/ROM/BERLIN (Eigener Bericht) – In einem gemeinsamen Schreiben an die Deutsche Bahn AG fordern die Jüdische Gemeinde von Thessaloniki und der „Zug der Erinnerung“ die Rückzahlung der in Griechenland erpressten Einnahmen aus den antisemitischen „Reichsbahn“-Deportationen. Das staatseigene Bahnunternehmen hatte für seine Beihilfe zum Massenmord an mehr als 58.000 griechischen Juden von den Opfern Fahrkarten verlangt und 1943 über 2 Millionen Reichsmark eingezogen. Das Geld wanderte in die Kassen des deutschen Finanzministeriums und wurde nie zurückgezahlt. Die Jüdische Gemeinde von Thessaloniki und der „Zug der Erinnerung“ beziffern den geschuldeten Betrag einschließlich der seit 72 Jahren aufgelaufenen Zinsen auf über 89 Millionen Euro. Schuldner sind die DB AG und die Bundesrepublik Deutschland. Wie es in dem Offenen Brief der griechisch-deutschen Kooperationspartner heißt, halte Berlin Gelder aus Verbrechen gegen die Menschheit zurück. Der „Zug der Erinnerung“ ruft zu einem internationalen Appell auf, um die gemeinsame Initiative mit Nachdruck zu versehen.
Das gemeinsame Schreiben [1] beantwortet die jahrzehntelangen Weigerungen des deutschen Staates, sein Schuldenerbe aus den antisemitischen Mordoperationen in Griechenland anzuerkennen und zu begleichen. Bereits in der Nachkriegszeit hatte die Bundesrepublik Forderungen der wenigen Überlebenden entweder abgewiesen oder mit Bettelbeträgen abgespeist. Die Jüdische Gemeinde von Thessaloniki sah sich deswegen veranlasst, 2014 vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen. In Strasbourg hält man sich jedoch für „nicht zuständig“ (german-foreign-policy.com berichtete [2]).
Die antisemitischen Mordoperationen in Griechenland wurden von den deutschen Besatzern landesweit exekutiert und trafen auch die Bewohner zahlreicher Mittelmeerinseln, so auf Rhodos, Kreta und Korfu. Auf dem Festland kam es in Ioannina zu Verfolgungsmaßnahmen, die allesamt tödlich endeten. Besonders radikal gingen der deutsche Staat und seine Repressionskräfte in Thessaloniki vor. In der zweitgrößten griechischen Stadt wurden mehr als 58.000 Menschen als „Juden“ registriert, davon etwa 10.000 zu Zwangsarbeiten an Straßen oder Steinbrüchen verurteilt. Um sie freizukaufen, hatte die Jüdische Gemeinde ein Lösegeld in Höhe von 1,9 Milliarden Drachmen zu zahlen – nach heutigem Wert und ohne Zinsen etwa 69 Millionen US-Dollar.[3] Nachdem dieser riesige Betrag, zumeist in Form von Goldabgaben, bei den deutschen Besatzern abgeliefert worden war, kamen die Zwangsarbeiter zwar frei – aber wurden binnen weniger Monate erneut verhaftet: dieses Mal für Fahrten „in den Osten“.
Zwischen März und August 1943 stellte die „‚Reichsbahn‘ mindestens 570 Güterwagen bereit“ [4], in denen sämtliche greifbaren jüdischen Einwohner der Stadt nach Auschwitz und Treblinka verschleppt wurden. Unter den 58.000 todgeweihten Menschen befanden sich „mindestens 12.000 Kinder und Jugendliche. Die Opfer wurden dem sofortigen Tod in den Gaskammern ausgeliefert; nur wenige überlebten.“ Bei Abtransport in Thessaloniki hatten sie Sammelfahrkarten vorzuweisen, die individuell oder gruppenweise gekauft werden mussten. Einer der Überlebenden beschreibt den Ticketverkauf „als eine beruhigende Tatsache, die bei ihm die Hoffnung stärkte, dass die Deportation nicht mit dem Tod enden würde“.[5] Nach Berechnungen eines Gutachtens, das der „Zug der Erinnerung“ bereits 2009 veröffentlichte [6], nahmen die „Reichsbahn“ und der deutsche Staat bei ihrer antisemitischen Mordbeihilfe in Griechenland einen Millionenbetrag ein. Inklusive der seit 72 Jahren kumulierten Zinsen (2,5%) fordern die Jüdische Gemeinde und der „Zug der Erinnerung“ von den Tätererben jetzt 89.455.280,00 Euro zurück.
In dem Offenen Brief werden die Deutsche Bahn AG und die Bundesregierung darauf hingewiesen, dass sie Rechtsverpflichtungen unterliegen. Sollten die Berliner Schuldner eine Kompensation verweigern und Pfändungsklagen in Griechenland am Einspruch des Athener Justizministeriums scheitern, können die Schulden in Italien eingetrieben werden, heißt es in dem Schreiben, das sich auf ein Urteil des obersten italienischen Verfassungsgerichts bezieht. Das Gericht befand im Oktober 2014, dass auch ausländische Opferklagen gegen die Bundesrepublik Deutschland in Italien zulässig sind, wenn sich die Klagen auf Verbrechen gegen die Menschheit beziehen und ihre Durchsetzung im Heimatland der Kläger nicht möglich ist.[7]
Wie der „Zug der Erinnerung“ und die Jüdische Gemeinde von Thessaloniki in ihrem Schreiben andeuten, seien weitere Einwirkungsmöglichkeiten auf die DB AG und ihre Eigentümerin denkbar, vor allem in den USA. Dort operiert die DB AG mit dem Logistikunternehmen „DB Schenker“, das zu den Gesamteinnahmen des DB-Konzerns fast 50 Prozent beiträgt (2013 etwa 20 Milliarden Euro). Die „Schenker“-Vergangenheit habe in den USA bisher wenig Beachtung gefunden, heißt es in dem Offenen Brief. „Schenker“ hatte gemeinsam mit der „Reichsbahn“ maßgebliche Beihilfe zu den Massenmorden, Raubgeschäften und Plünderungen der Jahre 1938 bis 1945 geleistet, auch in Griechenland. In den USA, in Großbritannien, der Tschechoslowakei und in Polen war „Schenker“ wegen seiner Diversions- und Spionagetätigkeiten für Deutschland berüchtigt. „Schenker“ führte im Inland wie im Ausland „Arisierungen“ durch und diente als ziviler Mantel für Umsturzvorhaben und Staatsstreiche in ganz Europa, bestätigt eine Expertise, die dieser Redaktion vorliegt.
Das griechisch-deutsche Schreiben legt der DB AG und der Bundesregierung nahe, sich an den Ergebnissen einer aktuellen Vereinbarung zwischen der französischen Staatsbahn SNCF (Société Nationale des Chemins de fer Français) und Deportationsopfern in den USA zu orientieren. Sie sind emigrierte Überlebende deutscher Massenverschleppungen in Frankreich, die unter Beihilfe der SNCF an die deutsche Grenze und von dort mit der „Reichsbahn“ nach Auschwitz führten. Nach jahrelanger Leugnung und bei Androhung des Ausschlusses vom amerikanischen Markt erkannte die SNCF im Dezember 2014 eine Mitschuld an und stellte den Opfern und ihren Erben rund 100 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Davon unabhängig zahlt die SNCF an zivilgesellschaftliche Organisationen, Museen und Gedenkstätten weitere vier Millionen Dollar, um die Erinnerungsarbeit zu unterstützen.
Das französische Modell unterscheidet sich grundsätzlich von den bisher bekannten deutschen Versuchen, einer vollständigen und bedingungslosen Kompensation aus den Verbrechensschulden zu entgehen. So hatte die DB AG 2010 zwar dem Druck osteuropäischer Opferorganisationen entsprochen, die das Gutachten des „Zuges der Erinnerung“ zum Anlass für Kompensationsforderungen nahmen. Aber nach einem entwürdigenden deutschen Poker, das die Überlebenden entzweite, stellte Berlin nur Bettelbeträge bereit: 25 Euro pro Überlebenden der „Reichsbahn“-Deportationen, wie der „Zug der Erinnerung“ berechnete.[8] Außerdem scheinen die Zahlungen mit DB-Geschäften in Polen in Verbindung zu stehen.[9] Statt den minimalen Betrag den Opfern wenigstens in voller Höhe und unmittelbar auszuzahlen, wurde er einer Bundesbehörde überwiesen (Stiftung EVZ), die davon Gelder für ihren Verwaltungsapparat abzweigte. Opfer konnten bei der EVZ „Anträge“ stellen. Das Verfahren machte aus den Tätererben menschenfreundliche Gönner und aus den Schulden milde Gaben. Die Überlebenden der „Reichsbahn“-Deportationen aus der Ukraine, aus Weißrussland und Russland fühlten sich zu Bittstellern erniedrigt und protestierten.
Auch gegenwärtig versucht das Auswärtige Amt, die historischen Beziehungen zwischen dem deutschen Staat als Schuldner und den griechischen Opfern als Gläubigern zu verwischen oder gar umzukehren. Ein von Berlin einseitig ins Leben gerufener „Deutsch-griechischer Zukunftsfonds“ maßt sich die nominelle Mitträgerschaft der hellenischen Zivilgesellschaft an, die von diesem „Zukunftsfonds“ nichts wusste, bis das Auswärtige Amt arbeitslose Griechen mit Kleinstbeträgen für „Projekte“ lockte (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Zu den makabren „Projekten“ des Auswärtigen Amts, das den „Zukunftsfonds“ finanziert, gehört die Entwicklung einer Handy-App, mit der sich Touristen auf die Suche nach Überresten der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki machen können.[11] Auf diese Weise erhebt sich der deutsche Staat über die deutschen Taten, die er virtuell verflüchtigt und historisiert, ohne die anhaltenden Folgen dieser Taten je entgolten zu haben. Dafür muss die Jüdische Gemeinde von Thessaloniki gegen Berlin vor Gericht ziehen.
Die Handy-App ist kein Einzelfall und auch keine Verirrung. Systematisch verfolgt das Auswärtige Amt in Griechenland eine „Erinnerungskultur“ der ästhetischen Performance statt der materiellen Sühne. So zahlt das AA aus den Mitteln seines „Zukunftsfonds“ Honorare für Jazztourneen, die mit „Songs für Kommeno“, ein griechisches Opferdorf, die lokale Öffentlichkeit beeindrucken und deutsche Betroffenheit demonstrieren sollen. Wie das Auswärtige Amt auf seiner Webseite mitteilt [12], gehe es Berlin um die „künstlerische Auseinandersetzung mit dem Grauen des Kriegs“ – nach ein und demselben Muster: Für die physischen Verbrechen des Krieges, die im abstrakten „Grauen“ oder in der Handy-App verschwinden, weigert sich Berlin einzustehen. Um diese Strategie möglichst störungsfrei verfolgen zu können, finanziert das Auswärtige Amt meinungsbildende Milieus beider Länder und verstaatlicht ihre gut gemeinten Kulturbeiträge. Sie werden für die Neutralisierung von Opferforderungen benutzt. „Stiftungen“ wie den deutschen Staatsfonds, der mit der Zukunft wirbt, ohne die Vergangenheit entgolten zu haben, bringen auch deutsche Oppositionspolitiker ins Gespräch.[13]
Hingegen verlangen der „Zug der Erinnerung“ und die Jüdische Gemeinde von Thessaloniki die vollständige und unmittelbare Begleichung der Schulden. Wie das Schreiben an die DB AG und an die Bundesregierung vermerkt, fungiert als Rechtsberater der deutsch-griechischen Absender ein prominentes Mitglied der Arbeitsgruppe, die in den 1990er Jahren die Schweizer Banken zur Öffnung ihrer versteckten Holocaust-Konten bewegte. Verhandlungsführer war damals Stuart E. Eizenstat, der Sondergesandte des US-Präsidenten.[14]
Um den Klageweg möglichst unnötig zu machen und die Bundesregierung zum Einlenken zu bewegen, ruft der „Zug der Erinnerung“ zu einem internationalen Appell auf: „Wir hoffen auf eine einvernehmliche Einigung, von der die Bundesregierung durch die deutsche und internationale Zivilgesellschaft nachdrücklich überzeugt werden muss.“[15]
[2] S. dazu Domino-Effekt.
[3] Thessaloniki will Lösegeld zurück. www.juedische-allgemeine.de 25.02.2014.
[4] „Vollständige Rückzahlung der Mordeinnahmen aus NS-Massendeportationen jetzt.“ Zug der Erinnerung e.V. Pressemitteilung No. 02-15. April 2015.
[5] Spuren der Geschichte – Die jüdische Gemeinde von Salonika – das Jerusalem des Balkans. Die Internationale Schule für Holocaust-Studien. www.yadvashem.org.
[6] Gutachten über die unter der NS-Diktatur erzielten Einnahmen aus Transportleistungen zur Verbringung von Personen aus dem Deutschen Reich und dem okkupierten Europa in Konzentrationslager und ähnliche Einrichtungen. Zug der Erinnerung e.V., 2009.
[7] Italien ist in guter Verfassung. www.juedische-allgemeine.de 30.10.2014.
[8] Deal zu Lasten der NS-Opfer. Zug der Erinnerung e.V. Pressemitteilung 17-10 vom 14.12.2010.
[9] Zug der Erinnerung e.V. und Jüdische Gemeinde von Thessaloniki. Schreiben an Deutsche Bahn AG, April 2015.
[10] S. dazu Unter Geiern.
[11] App für die Erinnerung. www.sueddeutsche.de 17.04.2015.
[12] Griechische und deutsche Künstler – gemeinsam gegen das Vergessen. www.griechenland.diplo.de.
[13] Künast fordert Stiftung für griechische Nazi-Opfer. www.spiegel.de 19.03.2015.
[14] Vgl. Stuart E. Eizenstat: Unvollkommene Gerechtigkeit. München 2003.
[15] Zug der Erinnerung e.V. Mündliche Stellungnahme vom 21.04.2015.
Rubrik: Geschichte/Ιστορια