Aus geopolitischer Sicht ist ein Grexit für die NATO und die EU völlig inakzeptabel
John Brown, Europac.com, 17.06.2015
Aufgrund des anhaltendes Versagens der Verhandlungsparteien, bei den Gesprächen über die griechischen Schuldenzahlungen irgendwelche substantiellen Fortschritte zu machen, ist die Finanzwelt derzeit wie gelähmt und in großer Sorge bezüglich eines möglichen Austritts Griechenlands aus der Europäischen Union.
Diese Unsicherheit zeigt sich in der Finanzwelt im Kleinen wie im Großen. An den Anleihemärkten kam es zu drastischen Abverkäufen – speziell bei den Staatsschulden der EU und Griechenlands – und auch bei der Bevölkerung konnten erhöhte Abhebungen beobachtet werden, da sich die Kunden griechischer Banken nun immer stärker vor Kapitalverkehrskontrollen fürchten, die im Falle eines Austritts Griechenlands implementiert würden.
Doch alle besorgten Parteien sollten mal tief durchatmen. Denn obwohl Griechenland im Grunde über keinerlei finanzielle Seriosität verfügt, kann sich weder die NATO noch die EU die politischen Kosten eines Austritts Griechenlands aus der EU leisten.
Das unakzeptable Szenario, das droht, sollte die EU Griechenland tatsächlich rauswerfen, ist, dass Russland und China einspringen könnten, um Griechenland finanziell zu unterstützen und so in Westeuropa strategisch Fuß zu fassen und Zugang zum Mittelmeer zu erhalten. Das ist eine Vorstellung, die Europa nicht ertragen könnte. Kurzum: Die internationalen politischen Auswirkungen trumpfen alle denkbaren wirtschaftlichen und finanziellen Probleme.
Ich hatte ja vor ein paar Monaten darüber geschrieben, dass das moderne Griechenland von Europa fortwährend als Schutzwall gegen ungewollte Einfälle eingesetzt worden ist. In den 1820er Jahren wurde die griechische Unabhängigkeit von dem Ottomanischen Reich von den westlichen Mächten finanziert und gestützt, um so den türkischen Einfluss im Mittelmeerraum einzugrenzen und zurückzudrängen. Im 20. Jahrhundert wurde Griechenland zum entscheidenden Schlachtfeld des Kalten Kriegs, wo der Westen erhebliche Anstrengungen und Finanzen aufwendete, um das sozialistische Griechenland davon abzuhalten, endgültig in den sowjetischen Orbit zu fallen.
Und obwohl die Griechen unzählige Summen aus dem Ausland erhalten haben, sind die griechischen Regierungen notorisch nutzlos und trugen entscheidend dazu bei, den wirtschaftlichen Niedergang ihres Landes sicherzustellen. Um die großzügigen sozialistischen Zuwendungen und die offen antikapitalistischen Gesetze und Verordnungen zu finanzieren, nahmen die griechischen Regierungen unverantwortlich immer höhere Kredite auf.
Bei der Schaffung der Europäischen Union wurden unermüdliche Anstrengungen unternommen, Griechenland mit in die EU zu holen, um so den Aufstieg des Kommunismus zu verhindern. Das trug dazu bei, dass man die erschwindelten Wirtschaftsstatistiken, die Griechenland zur Mitgliedschaft bei der EU und der Eurozone verhalfen, auf betrügerische Art akzeptierte.
Die Mitgliedschaft in der Eurozone bescherte Griechenland Zugang zu riesigen Mengen an billigen Schulden, die vornehmlich unter der falschen Annahme vergeben wurden, dass es schon bald zur Schaffung einer politischen Union kommen würde, bei der die EU implizit für die Schulden Griechenlands haftet. Das ist vergleichbar mit den Anlegern, die fälschlich davon ausgingen, dass die Schulden der US-Immobilienfinanzierer Freddy Mac und Fannie Mae implizit durch die US-Regierung garantiert würden.
Doch genauso wie es auch bei Freddy und Fannie der Fall war – deren Zusammenbrüche die USA nach Auffassung Vieler in eine tiefe Depression getrieben hätte –, waren auch bei Griechenland die politischen Kosten eines Scheiterns zu hoch, als dass man sie hätte akzeptieren könne. Die finanziellen Kosten eines Scheiterns mussten daher von den Bürgern getragen werden. Darüber hinaus ist es so, dass große Teile der griechischen Schulden in den letzten paar Jahren von den EU-Banken zu den EU-Staaten transferiert wurden, die über die oft missbrauchte Fähigkeit verfügen, künftigen Generationen ihrer Bürger faule Kredite aufzubürden.
Und da sich die griechische Regierung dessen wahrscheinlich bewusst war, hat sie sich wiederholt einigen der mächtigsten Politiker und Zentralbanker der Welt entgegengestellt und dabei Zeit gewonnen, ohne nennenswerte Eingeständnisse machen zu müssen.
Noch wichtiger: Wenn der griechische sozialistische Premierminister Alexis Tsipras auf die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft, weiß er, dass sie sich ganz genau im Klaren darüber ist, dass jedwede Eingeständnisse gegenüber Griechenland als Präzedenzfall gewertet werden und Portugal, Irland, Italien und Spanien (sogar gemeinsam als Block) dazu ermutigen könnten, eine ähnlich vorteilhafte Behandlung einzufordern.
Darüber hinaus könnten die britischen Wähler durch die Aussicht auf ein mögliches Auseinanderbrechen der EU ermutigt werden, sich bei ihrem Referendum in 2017 dafür zu entscheiden, das sinkende Schiff zu verlassen. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU könnte den europäischen Traum beenden und würde europäische Schulden im Wert von Billionen von US-Dollars und sogar die europäische Einheitswährung selbst in Gefahr bringen.
Neben diesen wichtigen Sorgen hat Merkel aber noch eine allesüberragende Angst. Sollten die Gespräche mit Griechenland völlig zum Erliegen kommen, wird Griechenland wahrscheinlich anderswo nach Finanzierungsquellen suchen. Und es könnte sein, dass es auf bereitwillige Kreditgeber stößt – die unter gewissen Bedingungen Gelder zur Verfügung stellen. So könnte Russland Gelder für Griechenland in Aussicht stellen, wenn es im Gegenzug einen Marinestützpunkt erhält. Und wenn nicht Russland, dann eben China. Auch die Chinesen könnten versuchen, ein riesiges Rettungspaket zu offerieren, um sich so einen Zugang zur europäischen (NATO-)Landmasse zu kaufen. Es ist kein Geheimnis, dass China ein großes Interesse daran hat, den Betrieb des Hafens von Piräus, einer der größten Häfen im Mittelmeer, zu übernehmen.
Und während Merkel und die sie unterstützenden anderen EU-Führer harte Worte an die griechischen Politiker richten, wissen sie, dass es politisch unakzeptabel ist, es zuzulassen, dass eine Staatspleite der Auflösung der EU oder dem strategischen Einfall Russlands oder Chinas den Weg bereitet.
Die politischen Kosten eines griechischen Austritts dürften daher als unakzeptabel erachtet werden, ganz gleich wie hoch die Kosten eines Zahlungsausfalls Griechenlands für die EU-Steuerzahler auch ausfallen mögen. Und deshalb glaube ich auch, dass die Chancen für einen Grexit ungeachtet all des politischen Getues, all der Verzögerungen und Drohungen, weit geringer sind, als gemeinhin angenommen wird.
Wahrscheinlich wird die EU eine verdeckte griechische Staatspleite zulassen, die bis auf weiteres mittels verlängerter Rückzahlpläne, fingierter Refinanzierungs-Formeln und verzögerter Haircuts bei Endfälligkeit der Anleihen versteckt wird. Sie werden dann vielleicht darauf beharren, dass diese Maßnahmen aus technisch formaler Sicht keinen Zahlungsausfall Griechenlands darstellen. Und die hörige Presse dürfte einer solchen Charakterisierung ungeachtet all der Absurdität sogar noch zustimmen. Ja selbst die Anleger könnten so begeistert sein, dass es bei Aktien und Anleihen zu einer Erholungsrally kommt. Man wird unsere hartnäckigen Probleme also wieder einmal dadurch angehen, dass man einfach so tut, als gäbe es sie nicht.
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