Präsident Erdoğan macht seinen Erzfeind Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. Beweise gibt es keine – trotzdem beginnt Erdoğan eine Verfolgungsjagd auf Oppositionelle, darunter auch die Anhänger seines ehemaligen Weggefährten Gülen.
Fethullah Gülen: Der Schulmeister
Die AKP macht Fethullah Gülen für den Putschversuch in der Türkei verantwortlich. Wer ist der Mann, der lange Erdogans Wegbegleiter war?
„Baut keine Moscheen, baut Schulen“, hat Fethullah Gülen einmal gesagt. Heute gibt es seine Dialog-Schulen in aller Welt. Auch in Deutschland. Und überall haben sie mit Angriffen und Anfeindungen von AKP-Anhängern zu kämpfen, seit der türkische Staatspräsident Gülen für den Putschversuch am 15. Juli verantwortlich gemacht hat. AKP-Kader haben über die Sozialen Netzwerke dazu aufgerufen, Gülens Anhänger auch im Ausland aufzuspüren und zu melden. Aber wer ist eigentlich dieser Mann, der seit 1999 in Pennsylvania, USA, lebt? Und wie weit reicht sein Einfluss?
Fethullah Gülen ist für Recep Tayyip Erdogan und seine Anhänger der Staatsfeind Nummer eins. Nicht erst, seit Erdogan ihn für den Putschversuch verantwortlich macht. Der Bruch liegt schon weiter zurück, die Aktionen gegen Gülens Netzwerk innerhalb der Türkei begannen bereits 2013. Dabei waren Gülen und Erdogan lange Zeit Weggefährten. Heute wird seine Bewegung in der Türkei nur noch FETÖ genannt, Fethullahci Terör Örgütü’nün, was soviel heißt wie Fethullahs Terror-Organisation.
Schon in den frühen Neunzigern, als Erdogan in die Politik einstieg – 1994 wurde er zum Bürgermeister Istanbuls gewählt -, begann die Annäherung, die damals von Erdogan ausging, der die Nähe zu dem einflussreichen Prediger suchte.
Gülen wurde im April 1941 in Korucuk geboren, einem anatolischen Bauerndorf bei Erzurum. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, wollte schon als Kind Prediger werden wie sein Vater, zog später als Imam nach Izmir. In den Sechzigern etablierte er sich dort als wortgewaltiger, charismatischer Redner, der immer mehr Anhänger um sich scharte.
Gülen predigt einen sunnitischen Islam mit sufistischen Einflüssen, der im Wesentlichen auf den Lehren von Said Nursi (1876 – 1960) basiert und sie weiterentwickelt. Vor diesem Hintergrund muss der spätere Schulterschluss mit Erdogan erstmal verwundern. Denn während Gülen einen Islam vertritt, der sich an modernen und demokratischen Staatsprinzipen orientiert, gehört Erdogan zur Milli Görüs, die von Anhängern Said Nursis schon früh aufgrund ihrer nationalistisch-antidemokratischen Haltung abgelehnt wurde. Gemeinsam ist beiden Bewegungen, dass sie im streng säkular-kemalistischen türkischen System immer wieder angefeindet und verfolgt wurden.
Die Gemeinsamkeit lag woanders: Sowohl Erdogan als auch Gülen wollten ein islamisches Staatssystem etablieren, die säkulare Ordnung und Marginalisierung der Religion war ihnen ein Dorn im Auge. Gülen verstand, dass er mit Moschee-Predigten in der Türkei nicht weiterkommen würde, also mäßigte er seinen Ton, legte das religiöse Ornat ab und wurde zum Anzugträger, suchte die Nähe zu Politik und Wirtschaft, demonstrierte Offenheit, indem er sich auch mit jüdischen und christlichen Geistlichen traf – als Höhepunkt gilt eine Audienz bei Papst Johannes Paul in Rom im Jahr 1998.
Während Erdogan vor allem dadurch Erfolg hatte, dass er sich als Stimme des Volkes gab, des kleinen Mannes, der sozial Schwachen, der Ungebildeten, und immer wieder auch eine regelrechte Bildungsfeindlichkeit propagierte – etwa indem er sagte, er lese keine Bücher, für so etwas habe er keine Zeit -, schlug Gülen eine völlig andere Richtung ein und bezeichnete Leistung und Bildung als das Wichtigste überhaupt. Er selbst hat seine Botschaft in zahlreichen Büchern, die teils auch auf Deutsch vorliegen, ausgebreitet. Sie tragen Titel wie „Was ich denke, was ich glaube“, „Islam und Demokratie“, „Unterwegs zu einer Gesellschaft der Liebe und Toleranz“. Er hat Essays über den Koran, das Leben des Propheten Muhammad und islamische Traditionen verfasst. In seinen Schulen spielen diese Werke eine zentrale Rolle.
Erdogan und Gülen in Schwierigkeiten
In den Neunzigern schien der Aufstieg Erdogans und Gülens ungebremst, bis sie sich beide in kurzer Folge vergaloppierten und es aussah, als wären ihre politischen Karrieren beendet. Im Jahr 1998 wurde die von Necmettin Erbakan gegründete Wohlfahrtspartei, der Erdogan angehörte, verboten; und Erdogan zitierte bei einer Rede ein verbotenes Gedicht des Dichters Ziya Gökalp, in dem es heißt: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Gläubigen unsere Soldaten.“
Erdogan wurde wegen Volksverhetzung zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt und es wurde ihm ein lebenslanges Politikverbot auferlegt – das allerdings aufgrund einer Verfassungsänderung einige Jahre später aufgehoben wurde. Bis heute bleibt dieses Zitat aber wegweisend und bezeichnend für Erdogans Haltung. Im Lichte der jüngsten Ereignisse gelesen, hat er damals, vor achtzehn Jahren, ziemlich genau angekündigt, in welche Richtung die Politik mit ihm gehen sollte.
Ein Jahr später erwischte es dann auch Gülen. Es tauchte ein Video auf, in dem er seine Anhänger aufforderte, den Staat systematisch zu unterwandern, sich Einfluss auf allen Ebenen zu sichern – man konnte es als Anleitung zu einer Verschwörung verstehen, an deren Ende der türkische Staat von Gülenisten übernommen werden sollte. Zwar wehrte Gülen sich und sagte, die Aufnahme sei manipuliert worden, doch als er unter Druck geriet und die Justiz hinter ihm her war, setzte er sich in die USA ab, wo er bis heute lebt.
Ausbau des Gülen-Netzwerks Hizmet
Von dort aus zieht er weiterhin die Strippen seiner Bewegung namens Hizmet („Dienst“). Er baute ein weltweites Netz aus Schulen auf, rund eintausend sind es heute, auch in Deutschland sind die Gymnasien staatlich anerkannt. Hinzu kommen tausende Nachhilfezentren, die in der Türkei eine besondere Rolle spielen, denn ohne sie ist ein Universitätszugang schwierig. Die Schüler kommen dort schon früh in Kontakt mit Gülens Schriften und seiner Ideologie – die in Teilen durchaus modern und progressiv und wie ein komplettes Gegenmodell zum repressiven Islamverständnis der AKP daherkommt. So lehnt Gülen den Kopftuchzwang (der sich aus dem Koran ohnehin nicht ableiten lässt) offiziell ebenso ab wie Berufsverbote für Frauen – während Erdogan sagt, „eine Gleichheit der Geschlechter kann es nicht geben“.
Auf der anderen Seite lehrt er aber auch zutiefst reaktionäres, mittelalterliches Gedankengut, etwa dass die Abkehr vom Islam ein Verbrechen ist, das mit dem Tod bestraft werden muss. Kritiker haben Gülen immer wieder vorgeworfen, dass er nach außen Toleranz und Offenheit predige, seine Bewegung nach innen aber mit harter Hand führe und ein System von Druck und Angst etabliere. Aussteiger berichten von sektenartigen Strukturen, wer gehen wolle oder die Regeln hinterfrage, werde gemieden, gemobbt, bedroht. Die Islamwissenschaftlerin Claudia Dantschke nannte die Hizmet „konspirativ“ und darauf ausgerichtet, „Gesellschaften zu transformieren“. Das Bild vom „harmlosen Bildungsnetzwerk“, sagt sie, sei nicht korrekt.
Gülens Anhänger wirken meist gebildet, seriös, sie suchen den Dialog und lehnen Gewalt ab. Ein harscher Kontrast zu den Bildern der Erdogan-Anhänger auf deutschen und türkischen Straßen, die teilweise als tumber, grölender und gewaltbereiter Mob daherkommen. Aber sobald die Sprache auf Fethullah Gülen kommt, geraten seine Anhänger ins Schwärmen. Er wird maßlos überhöht, man erkennt einen ähnlich unreflektierten Personenkult wie bei Erdogan. Darin ähneln sich beide: Die Inhalte sind zweitrangig, im Zentrum steht eine vergötterte Erlöserfigur. Wie brandgefährlich das ist, hat die Weltgeschichte zur Genüge demonstriert.
Die Nähe zu Erdogan blieb für Gülen nützlich
Der rasante Aufstieg der von Erdogan gegründeten AKP kurz nach der Jahrtausendwende half Gülen, seine Anhänger in der AKP und im gesamten türkischen Staatsapparat zu installieren. Daran zweifeln Beobachter nicht. Auch die kemalistische CHP, die größte Oppositionspartei im türkischen Parlament, sieht Gülen als Bedrohung. Bevor es zum Bruch mit Erdogan und der AKP kam, wurden immer wieder Gülen-Kritiker drangsaliert und verhaftet, darunter auch der Staatsanwalt Ilhan Cihaner, der wegen Geldwäsche gegen Gülen-nahe Unternehmen ermittelte. „Wer sich mit Gülen anlegt, wird vernichtet“, sagte er 2012 dem Spiegel. Die von Gülens Organisationen nach außen getragene friedliche Haltung, da sind sich auch solche Beobachter einig, die keine AKP-Sympathien haben, ist reine Fassade.
Schätzungen zufolge hat Gülen weltweit mehrere Millionen Anhänger, die meisten in der Türkei. Beim Aufbau seiner Bewegung beschränkte er sich nicht auf Schulen. Inzwischen gibt es ein Netzwerk aus Wirtschaftsunternehmen, Stiftungen, Verlagen, Medienhäusern. In der Türkei gehören dazu unter anderem der TV-Sender Samanyolu, die Nachrichtenagentur Cihan und die Tageszeitung Zaman – die allesamt zu den reichweitenstärksten des Landes zählen. Sie wurden 2016 von der Polizei besetzt und unter staatliche Aufsicht gestellt. Auch der mächtige Unternehmerverband Tuskon rekrutiert sich aus Gülen-Schülern und gerät immer stärker unter Druck. Gülens Anhänger sollen insbesondere innerhalb der türkischen Polizei, Anwalts- und Richterschaft stark vertreten sein, was mehrfache Verhaftungs- und Entlassungswellen in den letzten Jahren begründete.
Auch in Deutschland ist die Hizmet aktiv, nicht nur mit fast 200 Schulen und Nachhilfezentren. In Frankfurt unterhält sie das Forum für interkulturellen Dialog, 2014 wurde in Berlin die Stiftung Dialog und Bildung gegründet, darüber steht der Bund deutscher Dialog-Institutionen, der auch jährlich den Dialogpreis verleiht – bislang unter anderem an den Schriftsteller Feridun Zaimoglu und die FDP-Politikerin Cornelia Pieper. Neben vielen anderen Themen findet sich bei all diesen und weiteren Institutionen eine Verbreitung der Botschaften der Hizmet-Bewegung im Sinne Fethullah Gülens.
Der Bruch und der Beginn der Säuberungswellen
Während Gülen sein Imperium ausweitete und Erdogan seine Macht in der Türkei, kam es schleichend zum Bruch zwischen beiden, der erstmals 2010 offen zutage trat, als Gülen die Gaza-Hilfsflotte, bei deren Einsatz neun türkische Soldaten starben, offen kritisierte und Erdogan ermahnte, er hätte den Dialog mit der israelischen Regierung suchen sollen. Die Antwort der AKP waren erste Razzien und Entlassungen von Gülen-Anhängern in der Verwaltung.
Als im Sommer 2013 der Gezi-Aufstand begann vermutete Erdogan abermals eine Beteiligung Gülens, und als im Winter desselben Jahres Abhörbänder publik wurden, die die Verwicklung des Erdogan-Clans in den größten Korruptionsfall der Geschichte der türkischen Republik offenbarte, hieß es aus Ankara wieder: eine Gülen-Verschwörung. Unmittelbar darauf folgten die ersten massiven Säuberungswellen bei Polizei, Richterschaft und im öffentlichen Dienst. Tausende wurden entlassen oder versetzt, viele verhaftet. Die Korruptionsermittlungen wurden beendet, indem man die Ermittler verhaftete. Außerdem wurde verkündet, man wolle Gülens Nachhilfezentren schließen.
So ging es die nächsten Jahre weiter. Vor allem unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen 2014 und nach den Parlamentswahlen 2015 verstärkte die AKP ihre Aktionen gegen Gülen, immer wieder gab es Verhaftungen und Entlassungen, Unternehmen wurden Aufträge entzogen, Medien verloren ihre Lizenz, zugleich wurde Gülen in AKP-nahen Medien zum Feindbild stilisiert.
Die bislang heftigste Säuberungswelle folgte auf den Putschversuch vom 15. Juli, der Erdogan zufolge Gülen zuzuschreiben sei. Seither wurden über 10.000 Menschen verhaftet und fast 60.000 entlassen oder suspendiert – vor allem Beamte, Lehrer, Akademiker, Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Militärs. Die AKP hat angekündigt, den kompletten Staatsapparat umzukrempeln und alle Gülen-Anhänger zu entfernen. Derweil hat sich Gülen vom Putsch distanziert und ihn kritisiert – er habe damit nichts zu tun. Diese Botschaft tragen auch Gülens Dialog-Institutionen in Deutschland seither offen in die Welt. Ob es stimmt? Das weiß wohl außer Gülen und Erdogan niemand so genau.
Quelle: http://www.heise.de/tp/artikel/48/48928/1.html
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