Raub des Jahrhunderts an der EU-Außengrenze
Der bevorstehende Austritt Großbritannien aus der Europäischen Union hat die größten Umwandlungen in der Alten Welt seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst, schreibt die russische Zeitung „Kommersant“. Serbische Analysten teilen auch die euroskeptische Meinung. „Die Hauptfrage ist, ob es auch weiterhin EU-Fonds für rückständige Länder geben wird. Denn der britische Beitrag zu diesen Fonds war gewaltig. Wenn nicht, hat der EU-Beitritt von Serbien keinen Sinn mehr, weil es Geldmittel in dem Umfang, in dem sie Bulgarien und Rumänien bekommen haben, nicht bekommen wird“, sagte der Politologe Dragomir Andjelkovic.
Eine kategorischere Auffassung vertritt sein Kollege Branko Radun: „Der EU-Austritt Großbritanniens gibt der Sache einen ganz neuen Anstrich, da London der einzige unabhängige geopolitische Spieler in Europa ist. Ohne Großbritannien bekommen wir ein von Berlin dominiertes Europa. Dabei verfügen die Deutschen nicht über das Potenzial, die EU zu einem bedeutenderen Spieler zu machen.“
Was Serbien anbetrifft, so würde es sowieso der EU nicht beitreten können, selbst wenn Großbritannien sie nicht verlassen würde. Serbien halte sich nur deshalb an die EU-Integration, weil Brüssel andernfalls die Situation im Lande destabilisieren und Serbien pleite machen würde. Ein ähnlicher Trend sei auch in einigen anderen Ländern (in der Moldau zum Beispiel) nachzuvollziehen.
Die Republik Moldau verkommt zum Krisenherd an der EU-Außengrenze. Die politische Elite und der Staatsapparat des Dreieinhalb-Millionen-Einwohner-Landes gelten als fast durchweg korrupt. Oligarchen räumen die Banken leer, lassen Konkurrenten verhaften – und werden von der korrupten Politik gedeckt, schreibt Spiegel Online. Ein Milliardendiebstahl, Schmiergelder in zweistelliger Millionenhöhe, Oligarchen, die einen Staat annektiert haben und sich erbitterte Machtkämpfe liefern – das klingt fast schon ausgedacht. In der Republik Moldau ist genau dieses Szenario Realität.
Ende Juni in einem milliardenschweren Betrugsfall hat ein Gericht den früheren Regierungschef (2009 – 2013) Vlad Filat zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Filat gilt als einer der reichsten und einflußreichsten Bürger der Republik Moldau. Das Gericht in der Hauptstadt Chisinau sah es als erwiesen an, dass Filat an der Veruntreuung von einer Milliarde US-Dollar (900 Millionen Euro) bei drei Banken beteiligt war. Eine astronomisch hohe Summe für eines der ärmsten Länder Europas – sie entspricht rund einem Sechstel des moldauischen Bruttosozialproduktes von 2014.
Der Fall ging als größter Korruptionsskandal in die Geschichte Moldaus ein. In dem Skandal sind drei Banken verwickelt: Banca de Economii, Banca Socială und Unibank. Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein Teil des Geldes durch Lettland geflossen sein könnte. Das Bankensystem des baltischen EU- und Euro-Landes steht nicht zum ersten Mal unter Verdacht, Finanzen aus mysteriösen Quellen zu kanalisieren.
Allerdings ist Filats Verhaftung wohl nur eine „Abrechnung unter Oligarchen unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die Korruption“, wie zahlreiche moldauische Medien vermuten. Denn der Ex-Regierungschef wurde ausgerechnet infolge einer Selbstanzeige jenes Mannes verhaftet – Ilan Shor, ein für seine dubiosen Geschäfte bekannter israelisch-moldauischer Unternehmer. Geboren in Israel, kehrte er später mit seiner Familie zurück nach Chisinau.
Mehr zum Thema: http://www.heise.de/tp/artikel/44/44841/1.html
„Die Situation in der Republik Moldau war noch nie so dramatisch“, sagt der rumänische Politologe Dan Dungaciu. „Zur tiefen ökonomischen Krise, die auch durch den Milliardendiebstahl verursacht wurde, kommt eine Vertrauenskrise von bisher nie dagewesenem Ausmaß hinzu.“ Der frühere Reformpolitiker Ion Sturza, der 1999 kurzzeitig als Ministerpräsident amtierte, beschreibt die Verhältnisse in seiner Heimat so: „Das Luxusleben der politischen Führer basiert auf Korruption, Diebstahl und Betrug. Alle Parteien finanzieren sich durch Korruption und sogar durch organisiertes Verbrechen. Alle Minister, Abgeordneten und Beamten stehen im Sold ihrer politischen Paten.“
Iulian Chifu, Berater des Ex-Präsidenten Traian Băsescu, dazu: „Rumänien spielt die Rolle, die es immer gespielt hat, nämlich des Anwalts der Moldaurepublik innerhalb der EU.“ Die beklagenswerte Rolle, man muss anerkennen.
Die Moldau als Musterbeispiel der „Ost-Partnerschaft“
Die Moldau ist unglaubwürdig sowohl in den Augen der eigenen Bürger als auch jenen der europäischen Regierungen. Dabei noch vor gut einem Jahr galt Republik Moldau als Musterbeispiel der „Östliche Partnerschaft“ der EU, schreibt Programm-Managerin Katharina Patzelt (Brüssel). Ihre Bürger profitieren als einzige aus den Staaten der östlichen Nachbarschaft von der visafreien Mobilität in Europa. Die Europäische Union lobte die von der Koalitionsregierung umgesetzten Reformen und unterzeichnete den Assoziierungsvertrag mit Chişinău. Das Land will 2020 der EU beitreten.
Die „Östliche Partnerschaft“ wurde von der Europäischen Union als Form einer Erweiterung ihrer Kontakte zu den sechs Ländern des postsowjetischen Raumes geschaffen, also zu Aserbaidschan, Armenien, Weißrussland, Georgien, Moldawien und zur Ukraine. Die Ideologen der „Ostpartnerschaft“ hatten und haben jetzt die Hauptaufgabe, eine Kluft in den Beziehungen zwischen Russland und den Staaten aufzureißen, die Russland im Rahmen der eurasischen Integrationsprozesse sehen will. Dem sei hinzugefügt, dass das geschah, ohne diesen Ländern in der Perspektive eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen.
Das EU-Programm „Östliche Partnerschaft“ schafft laut dem polnischen Außenminister, Witold Waszczykowski, nur eine Illusion. Das Projekt sei ein Reinfall, weshalb die polnische Regierung „diese Konzeption als falsch verworfen hat“, zitiert Radio Polen die Worte des Ministers. Berlin habe allerdings die Situation gepasst, wo diese sechs osteuropäischen Länder nicht nur keine EU-Mitglieder waren, sondern auch wenig Chancen für einen EU-Beitritt in absehbarer Zukunft besaßen, meint die BBC in ihrem Kommentar. Am deutlichsten werden dieser Widerspruch und der Mangel des Programms „Ost-Partnerschaft“ im Fall Weißrusslands. Einerseits versuche die Europäische Kommission, das offizielle Minsk in entsprechende Projekte einzuschalten, andererseits aber mische sie sich aktiv in die innenpolitische Situation in dieser Republik auf Seiten der Opposition ein.
Nach EU-Angaben wurden zur Umsetzung der Programme der „Östlichen Partnerschaft“ seit 2009 rund 3,9 Milliarden Euro ausgegeben. Allein in 2014 wurden 730 Millionen Euro bereitgestellt. Statt eines „Ringes der Freunde“ der Länder mit Marktwirtschaft und Demokratie ist die EU jetzt von einem „Feuerring“ umgeben, der nicht nur die postsowjetischen Länder, sondern auch die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens umfasst.
Visegrád-Gruppe „im Kreuzfeuer“
Die Länder der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) stehen quasi „im Kreuzfeuer“. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nötigt sie, im Fahrwasser des antirussischen Kurses der EU-Führung zu folgen. Ihre nationalen Interessen erfordern indessen, die Zusammenarbeit mit Russland zu entwickeln. Im Import Ungarns nimmt Russland den zweiten Platz ein, es lässt nur Deutschland den Vorrang, und liegt somit vor allen anderen EU-Ländern, ebenso festigt China seine Positionen an den europäischen Märkten.
Im Außenhandelsumsatz Polens ist Russland noch breiter vertreten. Es nimmt den fünften Rang unter den Exportpartnern und den zweiten Rang (ebenfalls hinter Deutschland) in der Struktur des polnischen Imports ein. Außerdem belegen die russischen Waren den dritten Rang in der Importstruktur Slowakei, wobei sie den deutschen und tschechischen Waren den Vorrang lassen, aber vor den österreichischen, ungarischen und polnischen liegen.
Nicht weniger bezeichnend ist der Außenhandelsumsatz Tschechiens. Deutschland liegt dort klar in Führung. Aber dahinter folgen in dichter Reihe in der Importstruktur Tschechiens Polen, die Slowakei, China, die Niederlande, Russland und Österreich, die faktisch einen gleichen Anteil aufweisen. Nicht zufällig beobachtet heute gerade Tschechien besorgt die Entwicklung der Finanz- und Wirtschaftslage in Russland und in Europa insgesamt. Die tschechischen Geschäftsleute sorgen sich besonders um das Schicksal ihrer Kredite und Investitionen in Russland. Der „Sanktionskrieg“ brachte Tschechien bereits Verluste in einer Höhe von mehr als 130 Millionen Dollar.
„So oder so, aber wir verlieren alle. Und die tschechischen Exporteure in erster Linie. Man möchte gern wissen, was wir mittels der Sanktionen von Russland erreicht haben? Ja nichts. Kurz gesagt, es ist längst an der Zeit, auf diese sinnlose, schädliche Sanktionsidee zu verzichten“, sagte Frantisek Masopust, Funktionär der tschechischen Industrie- und Handelskammer. Wozu braucht die EU eigentlich einen wirtschaftlich schwachen Partner wie die Moldau? Ist die Assoziierung mit der EU wirtschaftlich oder politisch? Masopust antwortet: „Aus meiner Sicht ist sie zweifelsohne politisch. Hätte ich die Handynummer eines zuständigen Beamten in Brüssel dabei, hätte ich diese Frage an ihn weitergeleitet. Eigentlich ist die Antwort klar: Eine rein politische Entscheidung wird getroffen.“
Kaum geringere Verluste erlitten durch den „Sanktionskrieg“ auch andere Partner Russlands. Den Gesamtverlust für die Wirtschaft der EU schätzen westliche Experten mit mindestens zwölf Milliarden Euro im Jahr ein. Russland ist für die EU mit zehn Prozent des Gesamtumsatzes der zweitgrößte Markt für Lebensmittelexporte, wobei es nur dem amerikanischen Markt mit 13 Prozent den Vorrang lässt. Die Sanktionen, die durch den „Druck von Übersee“ ausgelöst wurden, wirkten sich in erster Linie negativ auf europäische Produzenten aus, führten zur Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und zum Verlust von Arbeitsplätzen.
Dennoch beginnen die Verluste durch die russlandfeindliche Politik der EU in den Augen der Europäer allmählich „zu überwiegen“. Wie die britische Zeitung „The Sunday Times“ mitteilte, stehe die Bundeskanzlerin Angela Merkel „unter dem Druck“ der führenden deutschen Industriellen und Geschäftsleute, welche eine Aufhebung der Sanktionen fordern. Es ist kaum erstaunlich, dass mehrere Staaten Mittel- und Osteuropas bereit seien, die EU-Führung aufzurufen, die heutige Sanktionspolitik gegenüber Russland zu überdenken. Aber verbal schiessen einige quer, aber gehandelt wird als Block.